Identitäre Völker?

01.05.2024

von Dirk Hermann Voß


Eine diffuse Furcht vor dem Fremden gehört zu den vor-zivilisatorischen Grundängsten jeder Gesellschaft. Nicht nur in Deutschland wird die Angst vor einer unkontrollierten Migration aus anderen Kulturräumen von nationalistischen Demagogen dazu benutzt, alte Nazi-Mythen wieder aufstehen zu lassen. Die sogenannte „Identitäre Bewegung“, die alarmierenden Zuspruch in rechts- und linksradikalen Parteien findet, fabuliert von einer „biologisch begründeten Einheitlichkeit der Volks- und Abstammungsgemeinschaft“ und davon, daß angeblich die „Reinheit“ der jeweiligen Völker durch Vermischung und Zuwanderung gefährdet sei.

Dirk Hermann Voß, Internationaler Vizepräsident der Paneuropa-Union
Dirk Hermann Voß, Internationaler Vizepräsident der Paneuropa-Union © Oliver Frank

Selbstverständlich muß die Europäische Union illegale Zuwanderung in ihre Grenzen unterbinden, und dieses kann wirksam nur die EU als Gemeinschaft leisten. Der beschönigend als „Ethnopluralismus“ kaschierte Nationalismus ist aber nicht nur wegen seines kleinstaatlichen nationalen Ansatzes gar nicht in der Lage, illegale Einwanderung zu unterbinden oder legale Migration sinnvoll zu steuern, sondern steht ideologisch auch der Europäischen Union als der supra-nationalen staatlichen Verfaßtheit seiner vielgestaltigen Völker und Volksgruppen zutiefst feindselig gegenüber.
Mit der historischen Realität Europas hat der identitäre völkische Schwachsinn der alten und neuen Nazis rein gar nichts zu tun. Der national-identitäre Mythos, der am extremen rechten und linken Rand des politischen Spektrums propagiert wird, ist im besten Fall eine Geisteskrankheit und im schlimmsten Fall eine gefährliche und geschichtslose Demagogie. Der „Ariernachweis“ läßt grüßen! Europäer in ausnahmslos allen Regionen Europas sind Menschen, in deren Adern durch die Jahrhunderte jeweils das Erbgut ganz unterschiedlicher Völker und Volksgruppen zusammengeflossen ist und sich die besten Eigenschaften einer langen Kette von Vorfahren miteinander verbunden haben. Sammelbegriffe wie Romanen, Germanen, Slawen, Skandinavier, Gallier oder Kelten geben dabei nur einen oberflächlichen Eindruck über eine diversifizierte Vielheit innerhalb der Nationalitäten wieder, die in der Realität hunderte ganz unterschiedlicher Volksgruppen zählen, die sich keinem Nationalstaat der Neuzeit und keiner „Staatsnation“ zuordnen lassen.
Diese Offenheit Europas nach innen und nach außen hat der von den Nazis verfolgte Schriftsteller Carl Zuckmayer in seinem Erfolgsdrama „Des Teufels General“ aus dem Jahr 1946 meisterhaft dargestellt in einem literarischen Dialog zwischen dem deutschen Luftwaffengeneral Harras und dem Fliegerleutnant Hartmann, dem sein „Ariernachweis“ Kopfzerbrechen macht wegen des Stammbaums seiner Großmutter, die „aus dem Ausland gekommen“ ist, während seine übrige Familie aus dem Rheinland stammt. General Harras erklärt darin dem jungen Leutnant: „Na, und was wissen Sie denn über die Seitensprünge der Frau Ururgroßmutter? Die hat doch sicher keinen Ariernachweis verlangt … und was kann da nicht alles vorgekommen sein in einer alten Familie. Vom Rhein – noch dazu. Vom Rhein. Von der großen Völkermühle ... Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. – Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt … Es waren die Besten, mein Lieber! … Warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein – das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse. Seien Sie stolz darauf, Hartmann – und hängen Sie die Papiere Ihrer Großmutter in den Abtritt.“
Bürger Europas: Das ist Identität! Der Nationalismus gehört in den Abtritt.